Zimtschnecken und Salmiak
Jo saß auf seiner Veranda und trank ein Bier, das den Namen nicht verdiente. An das amerikanische Bier würde er sich wohl nie gewöhnen. Er war jetzt seit 5 Jahren in diesem Land und zählte sogar als Amerikaner – zumindest hatte er einen gültigen Pass. Aber das Bier war immer noch übles Zeug. Es gab ein paar ganz passable, aber da er heute nicht dazu gekommen war bei einer der vielen kleinen Brauereien einzukaufen, hatte er im Walmart noch schnell ein paar Budweiser mitgenommen. Das Zeug bekam man jedenfalls runter im Vergleich zu so manch anderem Mist. Vom Nachbarhaus hörte er leise Musik die beruhigend auf ihn wirkte. Schöner Country, wie fast jeden Abend, wenn sein Nachbar Jimmy B. und dessen Tochter zu Banjo und Geige griffen und musizierten. Das war nicht dieser Mist der in Deutschland als Country verkauft wird, sondern eigentlich sehr nette Folk Musik mit vielen Blueseinschlägen. Es passte jedenfalls zu seinem Bier und der milden Abendsonne. Seit Wochen war es der erste Tag an dem es nicht entweder extrem schwül war oder ununterbrochen Gewitterte, sondern ein klarer angenehmer Sommertag den man gerne draußen verbrachte.
Jo war vor einigen Jahren durch eine blöde Geschichte gezwungen aus Deutschland zu verschwinden. Durch die Hilfe von einem alten Freund bekam er einen amerikanischen Pass und etwas Startkapital. Das Kapital hatte nicht einmal ansatzweise lange genug gehalten wie es nötig gewesen wäre. Natürlich wollte Jo seinem Beruf als Privatdetektiv weiter ausüben und da er halt in Los Angeles ankam, dachte er sich, dass er da was finden würde, so mit Ruhm und Glamour und so. Also mietete er sich ein Büro und klebte ein schönes Schild an die Tür: „John Mohn – Private Eye“. Leider ist der Markt der Privatdetektive völlig überlaufen mit Ex-Polizisten und anderem zwielichtigen Gesindel, so dass er als Newcomer keine Chance hatte. Nach drei Monaten war er pleite und lebte auf der Straße. Glück und Zufall ließen ihn dann aber einige kleinere Jobs für andere Privatdetektive erledigen, so dass er soweit kam, dass er in einem Männerwohnheim unterkam. Nach drei Jahren hatte er die Nase voll von Kalifornien und setzte sich nach Madison, Wisconsin ab. Kaum zu glauben, von dem Ort hatte er gar nichts vorher gehört, aber hier gefiel es ihm wirklich. Überall gab es grüne Wiesen und Waldabschnitte, das Wetter war im Winter kalt, im Sommer heiß – genau so wie es sein sollte –, es gab eine Universität die für ausreichend Bars sorgte und natürlich jede Menge Brauereien, die die üblichen körperlichen Bedürfnisse befriedigen konnte. Mittlerweile arbeitete er an der Universität bei der Campus-Polizei, stellte da aber hauptsächlich Nachforschungen an wenn etwas passierte.
Die Tatsache dass es eine Campus-Polizei gab, war ihm Anfangs seltsam vorgekommen, bis er begriff wie eigenständig die Universitäten in den USA sind – und wie sehr es die Studenten auf Krawall anlegen. Es war mehrfach vorgekommen das bei größeren Festivals Polizei von anderen Bezirken angefordert werden musste, die dann in voller Kampfmontur für Ordnung versucht haben zu sorgen. Nicht sehr erfolgreich, aber es gab zumindest keine Toten. Die Feste waren wirklich legendär.
Für Jo war es zwar eigentlich kaum begreiflich das er mal bei der Polizei arbeiten würde, aber die Campus Polizei war kaum vergleichbar mit der echten Polizei, oder dem was er in Deutschland darunter verstanden hatte. Auf dem Campus waren sie durchaus mit der „echten“ Polizei vergleichbar und hatten ähnliche Befugnisse. Im waren Leben waren sie aber dann doch eher so etwas wie ein bewaffneter Sicherheitsdienst. Und da keine richtige Verbindung zu „echten“ Polizei bestand, war es für Jo recht sicher hier zu arbeiten. Außerdem wurde er ja auch gar nicht gesucht, soweit er das wusste. Seine Geschichte kam ja nicht mal in den Nachrichten, insofern fühlte er sich durchaus sicher. Das Häuschen war Teil seines Jobs, das hieß, er konnte sehr günstig hier wohnen und niemand fragte nach seinen Referenzen. Und wenn jemand fragte konnte er immer sagen, er käme aus LA, dann ließ man ihm hier fast alles durchgehen, da die Leute aus LA bekanntermaßen alles Gras rauchende, homo-bi-trans-sexuelle Spinner waren, die sogar schon einmal einen deutschen (ja, man war sich über die Unterschiede von Deutschland und Österreich nicht so ganz bewusst) Bodybilder zum Gouverneur gemacht hatten. Üblicherweise waren solche Kommentare dann gefolgt von einem 'auf der Farm meines Vaters...'. Immerhin, Wisconsin war noch nicht Montana.
Die Campuspolizei hatte Jo schnell schätzen gelernt als jemand mit rascher Auffassungsgabe und einem guten Auge. So wurde er schnell aus dem Streifendienst befördert und war jetzt im Bereich der Ermittlungen tätig. Gut, auf dem Campus waren Schwerverbrechen nicht so häufig dass man dafür eine Ermittlungstruppe haben müsste, und außerdem wurden diese sowieso von der normalen Polizei untersucht, aber es gab genügend Vorfälle die man intern regelte. Von Prüfungsbetrug über Sachbeschädigung bis hin zu den vielen Diebstählen gab es so einiges worum sich Jo kümmerte. Jo musste sogar richtig viel an Training absolvieren. Am Anfang war es total peinlich. Er war der erste der Anwärter der tatsächlich keine Waffe besaß und außer auf dem Jahrmarkt auch noch mit keiner geschossen hatte. Es hatte Monate gedauert bis er damit umgehen konnte. Mittlerweile war er sogar der Champion der Polizei, denn wenn es etwas gab, dass Jo nicht mochte, war es schlecht in etwas zu sein. Erst hatte er auch gar nicht geglaubt dass er die Waffe brauchen würde und ging etwas blauäugig an die Sache heran. Aber Reden half hier nicht viel, die Studenten waren entweder viel zu betrunken um zuzuhören, zu überdreht um zu merken wie schlecht ihre Situation war, oder selber bis an die Zähne bewaffnet. Bisher musste er zum Glück noch auf niemanden schießen, aber es war mehr als einmal kurz davor.
Nach diese fünf Jahren Wisconsin hatte Jo sich eingerichtet, hatte eine Wohnung – sogar ein Haus – ein Auto, Kollegen und war ganz gut etabliert. Was er nicht hatte, war eine Beziehung. Jedes mal, wenn sich etwas anbahnte, machte Jo einen Rückzieher. Nicht weil er das Mädel nicht mochte, sondern weil er Angst davor bekamt, das er nicht dichthalten konnte. Diese ständige Heimlichtuerei war einfach sehr schwer. Er konnte niemanden sagen wo er wirklich herkam. Oder was er früher gemacht hatte. Immerzu die Gefahr das es an die falschen Leute geriet. Und die waren bestimmt noch sauer auf ihn. Es durfte nicht mal an die Richtigen gelangen. Schließlich war er nicht offiziell mit einem neuen Pass ausgestattet worden, sondern ein Freund beim BND hatte ihm das alles besorgt. Wenn das raus käme wäre der seinen Job los. Wenn es bei dem Job bliebe. Schließlich käme dann wahrscheinlich die ganze Story raus und die Leute die auf John sauer waren, waren noch viel mehr auf seinen Freund.
Und so biss Jo in den sauren Apfel und machte einen auf lonesome Cowboy mit fetter Internetanbindung an die Pornoseiten dieser Welt. Und daran herrschte im Land der Freien und Mutigen nun wirklich kein Mangel. Es war für fast jeden Geschmack etwas dabei, auf inoffiziellen Wegen dann auch für jeden Geschmack. Zum Glück war John einfach gestrickt, was sein Kreditkartenkonto nicht über Gebühr belastete. Trotz diesen Versuchen der Einsamkeit etwas abzugewinnen hatte er in letzter Zeit zunehmen Heimweh bekommen. Nicht nur nach Deutschland, einfach nach Europa. Die Kollegen und Leute die er hier kannte waren nett, keine Frage, aber irgendwie auch anstrengend und ständig bemüht. Für ihn, wo er doch ein Geheimnis hüten musste, was es einfach zu viel, dass sich alle kümmerten. Er bekam Hilfe egal wobei, man drängte sich nicht auf, machte aber einfach mit. Dafür konnte er natürlich auch nicht wegsehen und war genauso hilfsbereit. Aber irgendwann war es einfach so weit das er raus musste. Und irgendwohin wo es den Leuten egal war, ob man Hilfe brauchte oder nicht. Und da er keine Lust hatte in den Wahnsinn von New York City zu fahren, entschloss er sich in Kopenhagen Urlaub zu machen. Das war nahe genug an seiner Heimat um sich heimisch anzufühlen und doch weit genug – hoffentlich – damit es kein Problem würde. Er wusste nicht ob die Drogenmafia von damals noch nach ihm suchte, aber er kannte viele Leute in Frankfurt, denen er nicht allen aus dem Weg gehen konnte. Und außerdem liebte er Zimtschnecken und alleine das Salzlakritz war eine Reise wert. So hatte er von seinem Gehalt bei der Campuspolizei eisern gespart und sich ein Ticket gekauft, sowie ein einfaches Hotel in Kopenhagen gebucht. Für den Fall das es schiefging und er doch ganz schnell wieder weg musste hatte er sich das Ticket von Chicago gekauft, insofern hoffte er das er im Fall der Fälle schnell genug dort untertauchen konnte und nicht jedem sofort klar war wo er nun wirklich lebte. Die USA waren ein großes Land und die knappen drei Stunden Fahrt dauerten auch nicht länger als der Flug mit Umsteigen bis nach Madison. Und es gab eine Gelegenheit weniger für die Fluggesellschaft sein Gepäck zu verlieren...
Die Koffer waren schon gepackt und im Auto, dann musste er nur noch zum Flughafen und los fliegen. Mit etwas Flattern im Bauch – schließlich war es doch eine Reise ins Ungewisse und nicht ohne Gefahr – stellte er den Wagen am Langzeitparkplatz ab und begab sich zum Check-in. Wenige Stunden später saß er bereits im Flugzeug und war am Dösen um den langen Flug erträglich zu machen.
Mit einer Verspätung von einer halben Stunde kam Jo um kurz vor zwei Uhr in Kopenhagen an. Der Flughafen war so überraschend gut organisiert, das er gerade mal eine halben Stunde später im Taxi zur Innenstadt saß. Er hatte sich vorher gut informiert und ließ sich vom Taxifahrer direkt in das SAS Radisson Blue am Bahnhof fahren. Am Radisson Blue stieg er aus und trat in das Hotel und bewunderte erst mal den großen modernen Hochhauskomplex. Der Taxifahrer wunderte sich dementsprechend auch nicht, warum er nicht mit der billigen Bahn vom Flughafen gefahren war, sondern ein Taxi genommen hatte. Wer so ein Hotel bucht, dem waren die paar Euro für ein Taxi in einer der teuersten Taxi-Städte der Welt auch egal. Jo ging zielstrebig in das Hotel hinein. In der Lobby die nur aus Holz und Marmor zu bestehen schien, schaute er sich kurz um, um dann Richtung der Toiletten abzubiegen. Auf den Toiletten schloss er sich in einer Kabine ein und wartete mit gespitzten Ohren. Im Taxi konnte er keine Verfolger feststellen, trotzdem wollte er auf Nummer sicher gehen. Als nach 5 Minuten die Tür der Toilette kein einziges mal auf oder zuging, nahm er schnell die Mütze vom Kopf, die seine kurzgeschorenen Haare komplett verdeckt hatten und ihn wie einen Glatzkopf hatten wirken lassen. Seine Jacke drehte er um, und statt der roten Sportjacke war es nun eine dunkle Jacke, die an einen Blazer erinnerte. Er riss die Klebefolie vom Koffer die aus dem schwarzen Kof fer einen knallroten gemacht hatte. Und schliesslich zog er noch seine Stoffhose aus, unter der eine Jeans zum Vorschein kam und er tauschte die Lederslipper gegen bequeme Turnschuhe aus seinem Koffer. Die dunkle Sonnenbrille wurde als i-Tüpfelchen gegen eine randlose Brille – mit Fensterglas – getauscht und schon sah Jo kein bisschen mehr aus wie ein amerikanischer Tourist sondern wie ein dänischer Geschäftsmann der auf dem Weg zu einem Termin war – gelobt seit die dänische Gelassenheit und die informelle Wahl der Arbeitskleidung. Aus der Toilette kommend beachtete ihn niemand. Zwar sind Hotels in dieser Preisklasse gut darin, den Gästen den Eindruck zu geben als wären sie völlig ungestört. Aber ein Geschäftsmann der anscheinend gerade ausgecheckt hat und aus dem Hotel Richtung Bahnhof abbiegt ist wesentlich uninteressanter als der Tourist der eincheckt und vielleicht etwas Trinkgeld übrig hat.
Nach einigen Querstraßen, offenen Schuhen und offensichtliche genervtem Beantworten von Emails auf seinem Telefon, sowie einem völlig überflüssigen Telefonat direkt nach dem Überqueren einer vielbefahrenen Strasse – es ist recht einfach ein modernes Telefon dazu zu bringen zu klingeln wenn man es möchte – war sich Jo völlig sicher das ihm niemand folgte. Beruhigt nahm Jo das Handy und klemmte es beim Überqueren der nächsten Strasse einem LKW in die Plane. Das Handy hatte er erst in Chicago am Flughafen gekauft und damit in USA noch reichlich telefoniert. Und zwar die Auskunft, die Zeitansage und die Wettervorhersage. Die Auskunft hatte er nach einem Lasse Ølson in Stockholm gefragt, nach der Køngesgåtan in Oslo (und einem Peer Rydberg der dort wohnen sollte), die Zeit hatte er sich für Kopenhagen, Stockholm und Helsinki geben lassen. Und das Wetter ebenso. Und über das Telefon hatte er sich ein Ticket für die Fähre nach Oslo bestellt. Nicht das er vorhatte dort hinzufahren. Aber es sollte genügend Verwirrung stiften falls tatsächlich sein Pass ein Problem sein sollte. Zwar würde es spätestens bei der Passkontrolle auffallen, das er nicht dabei war, aber ihn in Kopenhagen zu finden war auch nicht einfach, und er erwartete das es schwierig würde ihn am Flughafen abzugreifen.
Mit seinem Koffer ging Jo nun zum Hauptbahnhof und schloss ihn in einem Schliessfach ein. Anschliessend ging er zum Wake-Up Hotel in der Carsten Niebuhrs Gate. Dort hatte er ein Zimmer bestellt, und auch im Voraus bezahlt. Er checkte ein und ging auf das Zimmer. Dort machte er etwas Unordnung, leerte die Duschpackungen und Seife und stellte den Fernseher an. Anschliessend hängte er das „Do not Disturb“ Schild an die Tür und verließ das Hotel über die Treppe durch den Seiteneingang. Seinen Koffer holte er im Bahnhof wieder ab und ging zum Bed and Breakfast in Christianshavn und fragte auf Verdacht nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Zum Glück war keine Hochsaison und er bekam problemlos ein Zimmer für die ganzen zwei Wochen. So abgesichert konnte Jo endlich etwas ausspannen und sich erst mal auf das Bett legen. Kaum hatte er sich hingelegt, war er schon eingeschlafen und schlief die ganze Nacht friedlich durch.