Sie ließ die letzten Stunden vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Je mehr sie darüber nachdachte, um so mehr kam es ihr wie ein Traum vor. Kaum möglich das so etwas passiert ist. Ihr! Einer ausgebildeten Psychologin! Eine völlig unkontrollierte Handlung. Und ein Geständnis, über dessen Bedeutung sie sich immer noch nicht klar war. Ihr Blick fiel auf den halbgefüllten Koffer auf ihrem Bett. Ihrem Ehebett. In dem sie ihre Tochter gezeugt hatten. Und ihren Sohn...
Und in dem sie ohnehin nur noch alleine schlief. Zumindest so gut wie.
Mit einem Ruck klappte sie den Koffer zu und nahm ihn vom Bett, warf sich eine Jacke über und zog sich bequeme Schuhe an. Die Hausschlüssel lies sie auf der Kommode, sie würde sie wohl nicht mehr brauchen. Es war schon lange nicht mehr ihr Heim. Nicht mehr seit Alfred hier gelebt hatte. Und gestorben war...
Als die Haustür hinter ihr in Schloß viel, riß der verhangene Himmel auf und ein Sonnenstrahl schien ihr direkt ins Gesicht.
Leben! Sie wusste kaum noch wie das ging. Aber jetzt, alle Brücken hinter sich abbrechend, war es als wäre die Luft süßer, die Farben farbiger und der Boden unter ihren Füße schien jeden Schritt von ihr zu begrüßen.
Frei sein!
Die wenigen Schritte zum wartenden Taxi, in dem Nahmed bereits saß – ja, er saß da, es konnte also kein Traum gewesen sein – überwand sie wie auf wolken gehend. Regelrecht im Rausch stieg sie in das Fahrzeug. Und als der beige Mercedes anrollte warf sie einen letzten Blick auf das Haus, das solange ihr Dach über dem Kopf war. Dabei stellte sie fest, das es nur ein Haus unter vielen war, nicht einmal ein besonders schönes, und bestimmt nicht "ihr" Haus. Einfach nur ein Haus.
Das für sie niemals wieder etwas anderes sein sollte, als einfach nur irgendein Haus.
Auf dem Weg zum Flughafen sagten sie nicht viel. Es war eine angenehme Art von Schweigen. Worte schienen unnötig, ja gefährlich den Zauber des Augeblicks zu zerstören. Als spürte es der Taxifahrer warf er nur von Zeit zu Zeit einen Blick in den Rückspiegel und sagte nichts.
Am Ende der Fahrt deutete er auf den Taxameter – wieder schweigend. Vielleicht konnte er einfach auch nicht genug deutsch. War hier gestrandet ohne Heim, ohne Familie...
Nahmed drückte dem Taxifahrer eine hundert Euro Note in die Hand und wies ihn an den Rest zu behalten. Sie stiegen am Terminal 2 aus und begaben sich in Richtung Check-In. Nahmed hatte ihr bevor sie losfuhren mitgeteilt, das er ein Ticket für sie hätte. Wunderbare Welt, dank e-tix war es kein Problem mehr sich irgendwo im Internet eines zu besorgen. Alles was man brauchte ist ist eine Kreditkarte. Wohin es ging, wusste sie nicht. Es war ihr auch egal, jetzt wo sie den Duft der Freiheit riechen konnte. Einfach irgendwohin, nur weg.
Es war erfrischend leer am Flughafen. Die Urlaubszeit hatte noch nicht angefangen und für Berufsflieger war es zu spät. Sie stellten sich direkt am Schalter der Emirates an. Ein sichtlich gelangweilter Check-In Agent nahm die beiden Tickets entgegen und ihre Reisepässe. Zuerst wurde ihr Ticket eingelesen und der Pass durchgezogen.
"Fenster, Mitte oder Gang?"
"Fenster, bitte." Der Blick auf die Wolken würde ihr klarmachen, das sie wirklich auf der Reise ist. Nahmed neben ihr wirkte irgendwie nervös. Kein Wunder, sie war es ja, die aus ihrem Leben ausbrach. Er lebte ja schon länger so. Ihr war zwar nicht so ganz klar, wie "so" ist, aber jedenfalls anders als sie, das konnte ja nur besser sein.
Nachdem sie ihre beiden Bordkarte erhalten hatten wurden noch die Reisepässe durch die Tastatur geschoben. Nahmeds schien nicht so leserlich zu sein, da der Angestellte ihn mehrfach durchziehen musste, bis sich etwas tat.
Er schaute mehrfach auf den Bildschirm, dann schaute er sich den Reisepass an, dann wieder auf den Bildschirm. Nahmed neben ihr fing an sich nervös umzublicken. Der Check-In Agent lächelte beide kurz an und nahm dann sein Telefon auf.
"Einen kleinen Moment bitte."
Ins Telefon sprach er nur seine Schalternummer. Nahmed fing an von einem Bein aufs andere zu treten. Er hatte sogar Schweiß im Gesicht.
"Nahmed was ist denn?" flüsterte sie ihm zu.
"Nichts, nichts."
"Aber du bist so nervös."
"Das täuscht."
"Irgend etwas ist doch."
"Du ich, ich muss dir da was sagen..."
"Und was?"
Seine Augen zuckten nervös hin und her und schienen den Saal abzusuchen. Plötzlich fror sein Blick ein. Ein kurzer Blick in die Richtung zeigte ihr, das dort zwei Polizisten auf sie zukamen. Zwar langsam, aber zielstrebig und genau auf ihren Schalter. Auch der Check-In Agent hatte sie gesehen und richtete sich auf. Nahmed packte sie in dem Moment am Arm und zog sie vom Schalter Richtung Parkhaus.
"Nahmed, was..."
"Komm mit, ich erkläre dir das später."
Er zog sie zum nächsten Parkhauseingang. Die beiden Polizisten gingen direkt zum Schalter und sprachen mit dem Agent der noch beim hinausgehen auf sie deutete.
Dann ging die Tür hinter ihnen zu und Nahmed zerrte sie in das Treppenhaus.
"Nahmed was ist hier los?"
"Beeil dich, für Erklärungen ist jetzt keine Zeit."
"Aber ich gehe keinen Schritt weiter, wenn du mir nicht sofort sagst was los ist." Sie bekam ein ungutes Gefühl im Bauch. Könnte es sein, das sie vom Regen in die Traufe kam? Das das nicht einfach nur ein Zufall war, ein Fingerzeig der ihr ein besseres Leben zeigte? Sondern der größte Fehler ihres Lebens?
"Vertraust du mir, Ulrike?"
Konnte sie ihm vertrauen? Jetzt wo er sich so anders als in all den Therapiesitzen herausgestellt hat? Jetzt wo sie plötzlich nichts mehr von ihm wusste? Wo sie alles hingeschmissen hatte?
Wenn sie schnell nach Hause fuhr, konnte sie vielleicht noch auspacken und den Zettel entfernen, mit Ihrer Verabschiedung. Bevor jemand nach Hause kam und es las. Zurück in ihr verschlafenes Nest und die nächsten 20 oder 30 Jahre mit einem Mann verbringen der sie betrügt, mit einer Tochter die sie verabscheut. Und einem toten Sohn den sie nie vergessen wird.
Und was wenn Nahmed in Wirklichkeit etwas ganz anderes war, als sie dachte? Ein gesuchter Verbrecher? Ein Geheimagent? Ein Schläfer?
Hin und hergerissen von ihren Gedanken und Gefühlen, dem Drang nach Freiheit, dem Wunsch nach Sicherheit und dem Sehnen nach Glück starrte sie Nahmed nur an, konnte die Augen nicht von seinen nehmen, eine Ewigkeit lang.
Dann traf sie eine Entscheidung.