Zwei Wochen später war sie wieder daheim. Mit frisch verheilten Narben am Handgelenk und einer unterschriebenen Eideststattlichen Erklärung, dass Sie wöchentlich an Therapiesitzungen für Selbstmorgefährdete teilnehmen wird. Wenn der Psychiater zum Psychiater muss. Das war schon echt albern. Aber immerhin haben sie sie entlassen. Erst wollten Sie nicht, aber auf einmal haben sie im Krankenhaus ihre Meinung geändert und sie konnte ganz schnell gehen. Sie verstand zwar nicht warum, aber im Grunde genommen war sie sehr froh, wieder zu Hause zu sein. Ihr Mann hatte sie öfters im Krankenhaus besucht, sogar ihre Tochter war vorbeigekommen. Um ihr mitzuteilen, das sie bei ihrem alten Freund ausgezogen ist, ein paar Tage bei ihren Eltern gewohnt hat und dann zu ihrem neuen Freund gezogen ist. Es kam ihr immer noch alles vor, als würde sie sich die Situation von aussen anschauen. Wie ein schlechter Film. Ohne wirkliche Handlung und ohne Ziel. Aber jetzt hatte sie sich vorgenommen, das alles anders wird. Alles. Einfach anders. Nicht mehr wie früher. Aber wo anfangen? Sie war wieder alleine zu Hause, weil ihre Mann auf Geschäftsreise war. Nicht sehr überraschend. Sie hatte es nicht einmal fertiggebracht, ihren misglückten Selbstmordversuch ihm zum Vorwurf zu machen. Es hatte sich also nichts geändert. Sie würde gerne mit jemanden Reden. Jemanden der sie versteht. Aber so jemanden gab es einfach nicht. Oder doch? Im Telefonbuch fand sie die Adresse von Nahmed. Tatsächlich, nur zwei Strassen weiter. Sie beschloss einfach kurzfristig vorbeizugehen und sich mit ihm zu unterhalten. Wenn der Arzt zum Patienten wird...
Sie nahm ihren Mantel und lief die wenigen Meter zur Wohnung von Nahmed. Dort angekommen suchte sie eine Weile nach der Klingel, konnte aber keine finden. Auf gut Glück ging sie zur Haustür und klopfte. Als nach einer Minute noch keine Reaktion erfolgte, wollte sie sich gerade umdrehen und gehen, als sie hörte wir die Tür von innen aufgeschlossen wurde. „Oh, hallo Frau Borg. Wieder daheim?“ Er wirkte leicht überrascht und weit weniger erfreut sie zu sehen als sie gehofft hatte. „Es tut mir leid, wenn ich störe, sie hatten mich im Krankenhaus besucht, aber ich kann auch wieder gehen...“ „Nein, nein, warten Sie, bei mir ist es nur ein bischen unordentlich. Geben Sie mir fünf Minuten!“ Im gleichen Moment schon er die Tür zu. Zwar nicht soweit, das sie ins Schloss viel, aber mit der ganz klaren ansage, das sie draussen warten sollte. Schon bereute sie überhaupt hergekommen zu sein. 'Ich kann doch einfach nicht irgendjemanden meine Probleme aufdrängen!' dachte Sie bei sich. Keine zwei Minuten später erschien Nahmed erneut in der Tür, diesmal mit einem strahlenden Lächeln. Offensichtlich hatte er nicht aufgeräumt, sondern sich umgezogen. „Lassen Sie uns ein bischen spazieren gehen.“
„Wissen Sie Ulrike, ich darf Sie doch so nennen?“ „Ja, bitte.“ „Wissen Sie, eigentlich bin ich nicht überrascht, das Sie einen Selbstmord probiert haben. Eher darüber, das das jetzt erst passiert.“ Nahmed viel mal wieder mit der Tür ins Haus. Oder beinnahe mit der Wand. „Das war sehr direkt...“ „Tut mir leid, das ist nun mal so meine Art. Ich beobachte Sie ja schon eine Weile. Und da ist mir durchaus aufgefallen, das Sie einen sehr deprimierten Eindruck machen. Und das schon lange.“ Langsam wurde ihr sehr mulmig. Schliesslich sah das gar nicht nach Freundlichkeit aus, sondern nach einem fanatischen Anhänger – Stalker, wie das Neudeutsch heißt. „Ich muss zugeben, das mich das nicht unbedingt beruhigt.“ „Warum? Ach, so. Äh, nein, also, das ist anders als Sie denken.“ „Was ist denn bitteschön wie anders? Und was denke ich?“ „Gut, lassen Sie mich vorne anfangen. Ich bin noch nicht lange hier im Ort. Und ich habe versucht gewisse Gewohnheiten aufzubauen. Dazu gehört auch, das ich die Anwohner kenne. Und auch Schlüsselpersonen.“ „Schlüsselpersonen?“ „Ja, Personen, die eine wichtige Stellung einnehmen und bei denen viel Wissen über andere Bewhohner zusammenläuft. Wie ein Friseur. Oder der Bäcker. Und natürlich auch eine Ortsansässige Psychologin. Daher habe ich Sie lange besucht und war regelmäßig in Sitzungen.“ „Ich verstehe nicht ganz...“ „Ich werde ehrlich zu Ihnen sein. Ich bin hierhergekommen mit einer Vergangenheit. Und wahrscheinlich ohne eine Zukunft. Das alles hier ist nur ein Übergang, ein Abschnitt, eine kurze Pause. Es ist sehr wahrscheinlich das ich in naher Zukunft mehr oder weniger schnell von hier verschwinden muss.“ Die ganze Geschichte erschien ihr immer verworrener. Entweder Nahmed war ein ausgezeichneter Lügner oder sie wurde verrückt und bildete sich das alles nur ein. „Ich sehe, das Sie glauben ich würde lügen oder das Sie verrückt wären. Lassen Sie mich von vorne Anfangen: Ich wurde vor viele Jahren im Libanon gebohren. Meine Eltern waren seit ich denken kann das was Sie als fanatische und radikale Moslems bezeichnen. Ich wuchs auf in dem Wissen, das das zionistische und imperialistische Amerika der Untergang der Welt bedeutet und nur Allah uns retten kann. Meine Eltern waren mit ihrer Einstellung aber alles andere als beliebt in der Familie. Daher mussten sie dem Druck nachgeben und ich wurde mit 7 Jahren nach Deutschland zu meiner Tante geschickt. Diese gab mich als Waisen aus und ich konnte somit bei ihr wohnen. Hier erhielt ich dann eine deutsche Schulbildung. Allerdings war es so, das ich durch meine Erziehung bis dahin wenig verständlich für das westlich-liberale Leben meiner Tante aufbringen konnte. Ich war auch in der Schule fremd, ein Aussenseiter. Integration gab es damals praktisch nicht. Ich wollte oft alles hinschmeissen und zurück in den Libanon. Aber der Mann meiner Tante war stark und vernünftig genug, mir Einhalt zu gebieten. Sogar so weit, das ich ein Stück meiner Einstellung ablegte und mich einfügte. Ich konnte die Hauptschule einigermassen abschliessen und fing sogar eine Ausbildung an. Als Schreiner.“ Soviel hatte Nahmed in den Sitzungen nie erzählt und er schien auch kaum zu bremsen. Es war als ob ihm die ganze Geschichte schwer auf der Seele brannte. „Leider war das nicht mein Beruf und ich brach nach kurzer Zeit die Lehre ab und versuchte eine Ausbildung als Schlosser. Auch dort hat es nicht funktioniert. Für mich war das aber nie ein Ansporn zum besseren Arbeiten, sondern ich schob es alles auf die Imperialisten und die Zionistische Weltverschwörung. Meine damaligen Kumpels brachten mir dann eine gewisse Koranschule näher. Was folgte war ein klassischer Klischeefall – ein radikaler Imam und fanatische Freunde und schon wäre ich liebend gerne als Selbstmordattentäter in den Tot gegangen. Damals war aber Deutschland als Ziel nichteinmal angedacht. Die USA waren weit weg. Stattdessen wurde von Afgahnistan geredet wie von einem Paradies: Die Taliban an der Macht, Leben streng nach dem Koran. Ich führ hin mit ein paar Freunden. Und wir wurden ausgebildet. Bomben bauen. Und täglich wurden wir daran erinnert, wie wichtig es ist für die gute Sache zu sterben. Während der Ausbildung dort lerne ich ein Mädchen kennen. Ich konnte mich mit dem Vater sogar über den Brautpreis einigen. Wir waren verlobt.“ Nahmed redete nun immer schneller und immer leiser. Sein Blick schweifte ab, als ob er etwas in der Ferne beobachtet. „Frauen waren damals nicht erwünscht. Sie war jedoch stark. So stark, das sie es allen Männern zeigen wollte. Sie starb kurz vor unserer Hochzeit bei einem Selbstmordanschlag. Sie hat ihn selbst geplant und durchgeführt. Völlig perfekt. Es gab nur das Problem, das sie eine Frau war. Das war undenkbar. Sie wurde weder als Märtyerer behandelt, wie die anderen, sondern als unwürdig. Als hätte sie die gute Sache beschmutzt.“ Wie machte Nahmed eine lange Pause. Ulrike konnte nichts dazu sagen. Nicht nur, weil ihr die Worte fehlten, sondern einfach um ihn im Redefluss nicht zu unterbrechen. „Ich wurde von meinen Schuldgefühlen ihr gegenüber regelrecht zerfressen. Ich zweifelte an der Sache, am Glauben, an mir selbst. Schliesslich tauchte ich auf dem Land unter. Dort erfuhr ich die Realität über die Herrschaft. Unterdrückung. Ungerechtigkeit. Willkür. Ich war zu lange in Deutschland gewesen, um mich damit abzufinden. Schliesslich, durch einen glücklichen Zufall, ging ich nach Pakistan kurz bevor die Amerikaner anfingen das Land zu bombadieren. Ich hatte nichts vom 1.. September mitbekommen und war in Pakistan ersteinmal nur wütend über das was nun geschah. Aber auch dort gab es gewisse Nachrichten und da ich mich nicht mehr in ganz so fanatischen Kreisen bewegte. erfuhr ich auch von den Anschlägen. Ich war entsetzt. Trotz all der Zeit in den Camps konnte ich ein solches Verbrechen nicht mit dem Koran in Einklang bringen. Sicher, Behörden anzugreifen, Soldaten, Politiker. Das waren für mich legitime Mittel. Aber Unschuldige? Frauen? Vielleicht sogar Kinder? Das war Mord. Imperialisten oder nicht.“ Das Geständnis von Nahmed berührte sie sehr tief. auch wenn sie sich nicht sicher war, ob er sich das nur ausdachte. „Ich versuchte mein Leben zu ordnen. Und beschloss schliesslich zurück nach Deutschland zu gehen und von vorne anzufangen. Am Flughafen wurde ich von der Geheimpolizei abgefangen. Sie hatten meinen Namen aus einer Liste in einem der Camps. Sie übergaben mich einer Truppe aus Deutschland, die mich wochenlang verhörte. Sie fragten immer weiter. Ich erzählte ihnen alles was ich wusste. Ich wollte abschliessen mit diesem Kapitel. Aber das liessen sie nicht zu. Stattdessen sollte ich zurück nach Deutschland, aber in der Koranschule in der ich war als V-Mann arbeiten. Nicht das sie mir eine Wahl gelassen hätten. Diese Menschen können sehr überzeugend sein. Um es kurz zu machen: Ich stellte mich etwas blöd an. Ich fiel auf. Oder jemand hat mich verpfiffen, das weiss ich nicht so genau. Jedenfalls musste ich untertauchen. Neuer Namen, neues aussehen. Und jetzt bin ich hier.“ Nach einer langen Pause beschloss Ulrike, das Nahmed fertig war mit erzählen. „Ja, jetzt sind sie hier. Aber warum erzählen Sie mir das alles?“ „Weil ich seit Jahren mit niemanden sprechen darf. Weil ich mich eingemauert habe. Weil ich Angst habe und weil ich nicht mehr kann. Ich habe keine Kraft mehr diese Lügen aufrecht zu erhalten. „Warum erzählen Sie denn das alles ausgerechnet mir?“ „Sie sind die einzige Person die mir in den letzten Jahren zugehört hat. Ich vertraue Ihnen. Ich lege mein Schicksal in Ihre Hand.“ Von diesem Geständnis was sie völlig verblüfft und wusste nicht wie sie darauf reagieren sollte. Sie versuchte mehrfach zu einer Antwort anzusetzen, klappte aber jedesmal einfach den Mund zu. „Ich weiss wirklich nicht...“ „Bitte,“ unterbrach er sie, „nehmen Sie sich Zeit. Ich habe Ihnen das erzählt um einen Stein von meiner Seele zu bekommen. Ich möchte eine neues Leben anfangen. Einen Schlussstrich ziehen.“ Sie dachte über seine Worte nach. Ja, einen Schlussstrich ziehen. Das wäre schön. Aber was dann? Einfach alle Brücken abreissen? Andererseits, was hielt sie denn noch? Würde es denn jemandem Auffallen, wenn sie ginge? Irgendwo anders hin. Wo sie niemand kennt, wo niemand es von ihr weiss? „Und ich glaube, das Sie das auch wollen, Ulrike.“ Wollte sie das wirklich? Wollte sie einen Neuanfang? Mittlerweile waren Sie weit gegangen und stehen geblieben. Sie standen auf einem Feld, fernab von den Häusern des Dorfes. Sie waren ganz alleine. Er stand ihr gegenüber und blickte sie erwartungsvoll an, als wartete er auf eine Antwort. Eine Frage die er vor langer Zeit gestellt hatte. Die sie nicht gehört hatte. Weil sie sich gefragt hatte, ob sie einen Neuanfang wollte. Genau wie er. Mit völlig fremden Leuten, die einen kaum kennen. Genau wie er. Aber genauso wie er, wollte sie wenigstens ein Stückchen Heimat mitnehmen. Genau wie er. „Was haben Sie mich eigentlich damals in unserer letzten Sitzung gefragt?“ Nahmed musste lachen. Es war ein ehrliches und offenes Lachen. Nicht beleidigend sondern einfach entspannt. „Was glauben Sie denn?“ „Ich weiss es wirklich nicht. Im Moment weiss ich eigentlich gar nichts. Ausser das ich keine Zukunft mehr sehe. Für mich. Hier oder sonstwie.“ „Ich hatte Sie gefragt, ob Sie weggehen wollen. Mit mir.“ Sie dachte eine Weile über die Frage nach. Über die Folgen. Die Auswirkungen. Da stand sie. Mit jemanden, der ihr eigentlich immer noch fremd war. Und dachte ernsthaft darüber nach, mit dieser Person abzuhauen. Das war idiotisch. Das war kindisch. Das war einefach nicht normal. Das war genau das was sie tun wollte. „Ja, ich will.“

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