Sie sah ein helles Licht in weiter ferne und einer leichten Windhauch wehte über ihr Gesicht. Jetzt werde ich bald wissen, was dann kommt... Sie wollte dem Licht entgegen und strengte sich an im zu folgen, aber es wurde nicht größer, sondern blieb einfach immer genau vor ihr. Mit größter Kraftanstrengung versuchte sich auf das Licht zuzubewegen um darin einzugehen, auf die andere Seite, wie man ihr immer gesagt hat, in die Ewigkeit in das Paradis... Mit einem Ruck riss sie die Augen auf, nur um sie gleich wieder zu schliessen. Das was sie für ein weißes Licht am Ende des Tunnels gehalten hat, war die Deckenbeleuchtung eines Zimmers. Genau genommen, so konnte sie feststellen, nachdem sie vorsichtig die Augen wieder geöffnet hat, um nicht gleicht wieder geblendet zu werden, eines Krankenhauszimmers. Der angenehme Windhauch kam von einem Ventilator in der Ecke. Ein Blick auf ihre Hände zeigte ihr, das die Handgelenke verbunden waren. Und in ihrem rechten Arm steckte eine Infusion. Sie war alleine im Zimmer, ein Zimmer ohne Bilder, mit nur einem Bett. Die weiß gekalkten Wände hatten etwas steriles, aber das ganze Zimmer hatte kaum Farben, ganz so als wollte man seinen Insassen (Warum denke ich gleich an Insassen?) nicht unnötig aufregen. Ein Stich des Bedauerns, das sie es nicht geschafft hatte regte sich in ihr. Was sollte sie nun tun? Der Gedanke an die Diskussionen über das Warum und Wieso, über die Fragen die gestellt würden, flackerte kurz auf. Aber es war ja niemand da. Vielleicht war ihr Mann oder ihre Tocher ja nur kurz draussen. Die Müdigkeit die sie dann überfiel liess sie sofort wieder in einen unruhigen Schlaf fallen. Wenig später wurde sie von der Schwester, die die Infusion wechselte geweckt.„Oh, sie sind ja endlich aufgewacht.“„Wo bin ich?“„Im Klinikum.“Aha. Diese Information war jetzt so gar nicht neu und anscheinend sagte ihr Blick das auch. Die Schwester versuchte schnell weiterzureden um über die Situation hinwegzukommen.„Wir haben ihren Mann und Ihre Tochter noch nicht erreicht. Aber Herr Huber, der Sie gefunden hat, wartet draussen.“Herr Huber? Was für ein Herr Huber?„Soll ich ihn reinschicken?“„Ja, bitte.“Kaum war die Schwester draussen, öffnete sich die Tür auch schon wieder und Nahmed kam ins Zimmer. Nahmed Huber. Nahmed Seyer Huber, ihr unbekannter Stammpatient.„Sie...“„Ja, entschuldigen Sie. Ich hatte den Eindruck, das sie etwas mitgenommen waren, als ich gegangen bin. Also fing ich an mir sorgen zu machen und bin zu Ihnen nach Hause gefahren.“„Woher wissen Sie, wo ich wohne?“„Mal abgesehen davon, das ich nur zwei Strassen weiter wohne? Sie stehen im Telefonbuch.“Oh, ja. Richtig.„Ich fand sie in einer unschönen Blutlache liegend. Zum Glück waren Sie – wie die meisten Erstlinge – nicht sehr versiert mit dem Messer und haben nicht tief genug geschnitten. Die Wunde hatte sich fast schon wieder geschlossen. Sie haben aber trotzdem eine ganze Menge Blut verloren.“„Erstlinge?“„Jemand der seinen ersten Selbstmordversuch macht. Die wenigsten schaffen es. Kleiner Tipp: Am besten in einer warmen Badewanne, dann schliesst sich die Wunde nicht so schnell.“„Warum erzählen Sie mir das alles?“„Damit sie es das nächste mal besser machen können.“„Ist das Ihr Ernst?“„Nein. Ich versuche Ihnen die Absurdität Ihrer Tat vor Augen zu führen. Sie haben aus Gründen gehandelt, die nur Sie alleine kennen. Aber waren diese es wirklich wert zu sterben?“„Und wenn ich keine Gründe hatte?“„Dann war das vielleicht der Grund. Soll ich welche suchen für Sie? Die Angst vorm Altwerden, von der Familie verlassen zu werden, Versagensangst...“Die Schonungslosigkeit mit der Nahmed mit ihr sprach traf sie völlig unvorbereitet. Sie konnte überhaupt nicht nachdenken, er trieb sie einfach vor sich her. Sie konnte nur noch auf seine Worte reagieren.„Wissen Sie, das Problem ist, Gründe gibt es immer. Und manchmal entschliesst man sich dazu so einen Schritt zu unternehmen. Ich war so frei und habe mir Ihren Abschiedsbrief angeschaut.“Trotz des Blutverlustes war anscheinend noch genügen in ihr um sie hochrot anlaufen zu lassen. Bevor sie etwas erwiedern konnte, redete Nahmed aber schon weiter.„Liebe Leute, ich habe heute beschlossen mir das Leben zu nehmen.“ Er blickte von dem Brief auf.„Das ist ja schon mal ein schöner Anfang. Aber ist ihnen denn wirklich nicht mehr eingefallen. Ist das wirklich der ganze Grund? Weil sie beschlossen haben sich das Leben zu nehmen?“Sie öffnete ein paarmal den Mund um etwas zu erwiedern, konnte aber nichts dazu sagen. Also machte sie den Mund wieder zu.„Das dachte ich mir. Wissen Sie, das Leben ist nun mal nicht einfach. Und ihres ist nicht einfacher als das anderer Leute. Aber auch nicht schwerer.“Diesmal viel ihr viel ein, was sie erwiedern wollte, ihr Mann, ihre Tochter, Alfred... Nahmed hob die Hand als sie zum sprechen ansetzte, „Nein, sagen Sie nichts, ich weiss von Ihrem Mann und Ihrem Sohn. Und Ihre Tochter schein auch nur Ihren Kühlschrank zu besuche. Aber das sind alles Dinge, die tausendfach tagtäglich passieren. Sie sind intelligent, gebildet, attraktiv. Warum also versuchen Sie nicht die Initiative zu ergreifen und etwas zu ändern?“Betretenes Schweigen füllte den Raum. Sie konnte ihm nichteinmal in die Augen sehen.„Wissen Sie, die Entscheidung zu treffen sich das Leben zu nehmen, ist nur eine Flucht vor der Entscheidung. Ich habe Sie gefunden, weil ich Ihnen helfe möchte, zu sich zurückzufinden. In all den Sitzungen habe ich gemerkt, das da etwas ist, das irgendwo tief versteckt ist. Wo ist diese Ulrike Borg, die nicht einfach davonläuft?“Tot. Gestorben mit ihrem Sohn. Einst war da so viel. So viele Ziele. So viele Möglichkeiten. Jetzt ist da einfach nichts mehr. Einfach nur noch leere. Wenn sie in sich hereinlauschte konnte Sie nichts hören. Nicht einmal ein Echo kam von ihren Gedanken zurück. Soviele Gedanken gingen ihr durch den Kopf. Nichts davon sprach sie aus, sondern starrte nur weiter auf die Bettdecke.„Hatten Sie denn nie irgendwelche Pläne?“Sicher doch. Aber die waren alle an der Realität zerbrochen.„Seien Sie ehrlich zu sich und sagen sie mir, wollen Sie wirklich aufgeben? Einfach die Augen zumachen und sterben? Hier und jetzt? Wenn Sie das wirklich wollen, dann gehe ich jetzt durch diese Tür und Sie sehen mich niemals wieder.“Sie wollte „Ja“ und „Nein“ sagen, nein nicht sagen, schreien. Aus lauter Verzweiflung. Und dann wurde aus der Verzweiflung Wut. Hier stand jemand, den sie nicht einmal richtig kannte, und er nahm sie ins Kreutzverhör. Gerade so als wäre sie die Patentin. Brüskiert, beschämt, peinlich berührt, all das war sie. „Ich weiß es nicht.“Jetzt war es heraus. Aus ihrer momentanen Perspektive sah alles im Leben so aus. Sie wusste nichts. Sie wusste nicht warum, sie irgendetwas getan hatte. Sie hatte einfach getan. Weil man es von ihr erwartete. Weil es die passende Zeit war. Weil andere es taten. Aber nie weil sie es wollte. Nichteinmal den Selbstmordversuch wollte sie wirklich. Es schien halt die richtige Zeit. Aber gewollt... Nahmed stand langsam auf und schaute sie an.„Ich werde jetzt gehen und werde morgen wiederkommen. Bitte denken Sie ein wenig über meine Worte nach.“Erst als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte schaute sie auf. Ihr Gesicht war feucht von Tränen. Vielleicht hatte er sie bemerkt. Vielleicht auch nicht. Sie drehte sich auf den Bauch, steckte den Kopf in das Kissen und weinte sich in den Schlaf.