Oh du Fröhliche...
Das Telefon klingelte. Zum 46. mal Heute. Heute heisst 11:21, es war also noch nicht einmal Mittag. Die Aktenberge auf dem Schreibtisch nahmen bereits Ausmaße an, bei denen das letzte Mal als Menschen in solche Höhen gebaut haben, ein göttlicher Blitz herniederfuhr. Auf diesen Blitz wartete ich nun schon seit Wochen. Er kam aber nicht. Was hätte ich für diesen Blitz gegeben, völlig egal ob er in die Akten einschlägt oder lieber gleich mich erschlägt. Und natürlich war alles eilig, eilig, eilig. Weihnachten war wieder völlig überraschend aufgetaucht, es schien gerade so als ob plötzlich aus jeder Ecke jemand hervorkroch und unbedingt noch sofort ein (Angebot, Auftrag, Muster, Fertigung, bitte passendes Einsetzen) haben wollte. Nicht zu vergessen die 4 laufenden Projekte. Alles keine Peanuts, sondern Projekte die wichtig waren, ja lebenswichtig für die Firma, damit natürlich auch für unsere Abteilung, ganz konkret aber für mich. Das hatte mir mein Chef unmissverständlich klar gemacht. Als Projektleiter durfte ich mir keine Fehler leisten, jedenfalls nicht mehr seit dieser Sache letztens. Mein anderer Chef, also mehr die Chefin, hatte mir auch so einiges klargemacht. Das war dann am Wochenende. Weihnachten steht ja vor der Tür. Und hämmert mit Springerstiefeln dagegen.
„Koch-Knecht GmbH, Sie sprechen mit Ernst Fromm, was kann ich für Sie tun?“
„Ja, hallo Herr Fromm, Kleinhaus-Müller, Industrietech hier, ich habe Ihnen da heute morgen eine Email geschrieben,“ - genau, eine von etwa 120 in meinem Posteingang -, „und da wollte ich gerne wissen ob Sie mir die mal eben schnell beantworten können, wir haben das nämlich eilig.“
Eilig. Das Lieblingsreizwort. Alles ist eilig, dringen, wichtig. Und was war mit den Sachen die mir Wichtig sind? Zum Beispiel endlich mal loszugehen und einen Adventskalender zu basteln für meine Freundin? Seit Wochen nahm ich mir täglich fest vor früher zu gehen nur um neue Bestmarken im lange Arbeiten hinzulegen. An Schlaf war kaum noch zu denken. Jeden Morgen um 3:30 war die Nacht zuende, vor lauter Nervösität.
Aber es schien auch irgendwie niemanden zu interessieren. Jeden Morgen fand ich auf den Stapeln die schon am Abend da waren neue Zettel der Kollegen mit „Wichtig!“ oder „Eilig!“. Wenn der Tag 48 Stunden hätte, es wären immer noch zu wenig.
Die Email von Herr Kleinhaus-Müller war kurz und prägnant (ich musste nur dreimal die „Seite-Ab“ Taste drücken) und enthielt rekordverdächtig wenige Fragen. Die nummerierten Fragen gingen nur bis 24, mit jeweils 3-4 Unterfragen und schon die Frage eins war so komplett und technisch detailliert das eine telefonische Auskunft nicht nur wenig Sinn hatte, sondern schlicht und einfach unmöglich.
„Herr Kleinhaus-Müller, leider habe ich aktuell sehr viele Anfragen auf dem Tisch die ich noch bearbeiten muss...“
„Ja, aber jetzt habe ich Sie gerade erwischt und dann können wir das geschwind durchgehen.“
Ich war tatsächlich einen Moment sprachlos, wie dreist eine einzige Person sein kann. Andererseits war das praktisch ein Deja-Vu. Die anderen Telefonate liefen ja auch nicht anders.
„Herr Kleinhaus-Müller, ich würde Ihnen gerne ein ausgewogene Antwort per Email...“
„Ja, solange ich die bis Mittag bekomme geht das natürlich klar, ich muss heute Nachmittag nämlich noch Weihnachtsgeschenke kaufen, das – haha – haben Sie aber sicher schon erledigt.“ Click
Der Zeiger meiner Wanduhr sprang mit einem hörbaren Ticken auf 11:54. Sicher. Bis Mittag. Weihnachtsgeschenke kaufen. Sicher. Habe ich alles schon Erledigt. Zumindest bei den Geschenken vom letzten Jahr und den das Jahr zuvor. Glaube ich wenigstens. Ach, dieses Jahr ist schon wieder Weihnachten.
Mein Hirn war eine einzige Ideenwüste. Und ich hatte nichtmal viele Geschenke zu verteilen. Die wichtigsten: Freundin. Familie. Freunde.
Aber was? Die Jahresendjagt nach dem perfekten, einmaligen Präsent, das überrascht und verzaubert war eröffnet. Schmuck? Bücher? Krimskrams? Nichts davon erfüllt alle, geschweige denn eine einzige Bedingung.
Das Telefon riss mich aus meinen Gedanken. Leider so aprubt das ich meinen Vorsatz nicht mehr ranzugehen glatt vergaß.
„Fromm, weil ich heute Nachmittag nicht im Office bin wollte ich Ihnen noch sagen das die Unterlagen die ich Ihnen gerade zugemailt habe heute noch bearbeitet werden müssen. Ich benötige die Punk 700 morgen früh in meiner Inbox.“
Mmh. von meinen Chef hatte ich noch gar keine Email bekomme, aber seit einigen Minuten zeigte das Oulook „Nachricht herunterladen an“, ich dachte schon es wäre abgestürzt.
„Sie meinen die 140 MB Vertragsdokumente?“
„Ja was denn sonst? Das ist für das Dubai Projekt, Kleinigkeit für Sie, sind ja nur 320 Seiten. Den Anwaltsquatsch hinten können Sie weglassen, dafür bezahlen wir die ja. Schönen Tag noch.“
Der „Anwaltsquatsch“ war eine Seite allgemeine Geschäftsbedingungen, die ich bisher noch nicht ein einziges Mal gelesen hatte. Der Rest technische Detailbeschreibungen für ein Projekt das ich nicht einmal betreue, sondern von einem Kollegen der kurzerhand krank geworden ist. Aus gesicherter Quelle wusste ich, das er zu einem Spezialisten nach Luzern gefahren ist, der wohl aus reinem Zufall seine Praxis in einem Skihotel aufgemacht hat. Wer's glaubt.
Eine kurze statistische Analyse ergab eine durchschnittliche Stapelhöhe der zu bearbeitenden Dokumente von 33,3 cm (bei einer Stichprobengröße von 3, wobei einer der Stapel bereits eine bedenkliche Schieflage hatte). Bei einer Blattdicke von geschätzten 0,05 cm waren das so knappe 2000 Seiten. Die Uhr zeigte mittlerweile 12:25 an, mein Magen knurrte, es war der 1. Dezember 2011, ich hatte keinen Adventskalender, meine, unter Umständen bereits Ex-, Freundin hatte auf keine SMS von mir geantwortet, meine Ideen für Weihnachtsgeschenke waren gleich null, mein Job eine Sackgasse und mein Leben nicht das Plastik wert aus dem meine Krankenkassenkarte gemacht war.
Also nahm ich den Telefonhörer hoch, wählte die 0, legte ihn neben das Telefon, öffnete mein Word und tippte eine Nachricht in das Programm ein und sendete es an den Drucker. Genaugenommen sendete ich die Nachricht an alle Verfügbaren Netzwerkdrucker und Emailempfänger, jeweils mit 9999 Kopien (mehr konnte ich nicht einstellen) und die Nachricht lautete „Ihr könnt mich alle mal – Euer Ernst in demselben“.
Anschliessend schnappte ich mir meine Sachen und ging Weihnachtsgeschenke kaufen und nach Hause, in der Hoffnung das meine Freundin noch dieselbe ist und meine Familie und meine anderen Freunde mich noch erkennen, wenn ich die Geschenke ihnen persönlich vorbeibringe. Zeit hatte ich ja jetzt genug.
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