Lieferdienst

An seinen Fenster zog die Landschaft schnell vorbei. Wälder, Straßen und hin und wieder ein Bahnhof. Die Anzeigetafel zeigte die Reisegeschwindigkeit von 230 Stundenkilometern. Er saß in dem ICE und dachte nach. Viel zu oft schon ist er diese Strecke gefahren, viel zu oft hat er die Landschaft gesehen. Aber es war immer noch besser, aus dem Fenster zu schauen als über den Grund seiner Reise nachzudenken. Wie so oft sagte er sich, das es das letzte mal wäre. Nur noch diese eine Fahrt. Aber dann kam immer wieder eine letzte Fahrt. Und jedesmal sagte er sich, das das bestimmt die allerletzte war.
Das Päckchen in seinem Rucksack war nicht groß. Aber es wog schwer für ihn. Er konnte es immer spüren, wenn er den Rucksack aufsetzte. Es schien ihnn runterzuziehen. Als wäre es voller Blei, und die viele Päckchen die er schon dabei hatte, wogen schwer auf seiner Seele. Und jedes einzelne, welches er transportierte, schien einen kleinen Teil von ihm mitzunehmen und ihm war als würde ihm etwas fehlen, nachdem er das Päckchen abgeliefert hatte.

Seit vier Jahren machte er das nun. Vier lange Jahre lang. Als er damit angefangen hatte, war an einem Punkt in seinem Leben, wo ihm eigentlich alles egal war. Seine Freundin hatte ihn verlassen, sein Studium war schon lange am Nullpunk angelangt, er hatte kein Geld und sah auch sonst keinen Sinn mehr in seinem Leben. Da erschien ihm das Angebot als Rettung. Zumindest erschien es ihm so, als ob es alles nicht noch schlimmer machte. Also brachte er das Päckchen an die angegebene Adresse. Er bekam damals sogar Trinkgeld.
Es machte ihm auch Spaß, die Päckchen auszuliefern. Er bekam das Päckchen als Paket zu sich geliefert, packte das Paket aus, entnahm das Päckchen und den Zettel mit der Anschrift. Dabei lagen dann üblicherweise Zugtickets und seine Bezahlung. Die Vorkasse war das beste daran. So konnte er in Ruhe einkaufen gehen, und die eine oder andere Überweisung machen. Es herrschte nie Zeitdruck die Päckchen auszuliefern. Nur einmal hatte er ein Päckchen nicht ausgeliefert. Er wollte, aber irgendwie war viel los, er war mit Freunden unterwegs und dieses eine Mädchen hatte es ihm angetan, und er wollte nicht los, nichtmal für die zwei Tage. Eines Abends kam er heim. Er bemerkte, das in seiner Wohnung etwas nicht stimmte. Zwar dauerte es eine Weile bis er herausfand was es war, aber dann sah er es. Das Paket war von seinem Schreibtisch verschwunden. Ebenso der Zettel. Und das Päckchen. Das Geld hatte er schon teilweise ausgegeben, die Zugtickets waren noch bei dem Päckchen. Es schien geradezu mysteriös verschwunden. Erst dachte er, er hätte es weggeräumt. Dann schaute er sich aber genauer um und entdeckte etwas anderes. Auf seinem Schreibtisch lag ein Photo seiner Familie, welches eigentlich irgendwo in einem Regal in einem Photoalbum kleben sollte. Das Photo lag auf einem kleinen Post-It auf dem mit nur zwei Worte standen.
‚So nicht‘
Zwei Worte die in ihm das absolute Grauen auslösten. Es konnte alles Bedeuten. Von einer milden Ermahnung bis zur Todesdrohung für seine Eltern. Diese zwei Worte machten ihm klar, welche Riesendummheit er begangnen hatten. Er hatte das Vertrauen seines Auftraggebers mißbraucht. Sein Auftraggeber war in seiner Wohnung gewesen, hatte sich keineswegs von den zwei Sicherheitsschlössern an der Tür beeindruckt gezeigt, ja diese noch nichteinmal aufgebrochen, sondern war in seine Wohnung spaziert als würde er dort wohnen. Dann hatte er nicht nur in Seelenruhe das Päcken gesucht und gefunden — okay das lag auf dem Schreibtisch, das war nicht schwer — sondern hatte auch seine Photoalben durchsucht. Dort hatte er nicht einfach irgendein Photo herausgesucht. Er hatte ein Photo herausgesucht das seine Familie fröhlich und beisammen zeigte.
Als er sich das Photo näher anschaute, stellte er fest, das jedes der Gesichter auf der Stirn ein Loch hatte. Als wäre es mit einer feinen Nadel durchstoßen worden. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder, er selbst. Sogar seinen Hund der auf dem Photo abgebildet war, hatte man die Nadel ins Gesicht getrieben. Das Photo war eindeutig eine Warnung. War es schon zu spät? Konnte er überhaupt noch etwas tun? Hatte er alle durch seine Dummheit zum Tode verurteilt? Wie lange war es her das er das Paket bekommen hatte? Drei Wochen? Vier? Und wann war er das letzte Mal in der Wohnung gewesen? Vor einer Woche? Hatte er mit seinen Eltern zwischenzeitlich telefoniert?
Die Übelkeit schoß ihm heiß in den Magen, fast hätte er sich über seinem Schreibtisch erbrochen. Gerade so schaffte er es in Badezimmer, wo er sich lang und Geräuschvoll in die Badewanne erbrach — die Kraft oder Zeit den Toilettendeckel hochzuklappen hatte er einfach nicht mehr gehabt.
Nach einer scheinbar endlosen Zeit, hatten die Krämpfe soweit aufgehört, das er mit zitternden Händen sein Erbrochenenes Wegspülen konnte, sich den Mund ausspülen und wieder in das Wohnzimmer ging. Er stand nun vor dem Telefonapparat und schaute diesen ängstlich an. Was wenn er seine Eltern anrufen würde, und die würden sich nicht melden? Okay, es waren Renter, die waren ständig unterwegs und sie konnten genausogut einen Kurzaurlaub machen, wie halbverwest im Keller liegen.
Irgendwann konnte er genug Kraft sammeln und den Hörer abnehmen, die Nummer wählen und dem Freizeichen am anderen Ende der Leitung lauschen. Nach zwölf Klingeltönen — wie konnte man zwölf Klingeltöne brauchen in einer Dreizimmerwohnung um ans Telefon zu gehen?— war seine Mutter dran. Sie klang wie immer genervt und hektisch, mit ihrem kurzengebundenen „Ja?“.
„Ich wollte nur mal … also wisseb wie … wie es euch so geht …“
„So, der Herr meldet sich seit Wochen nicht mehr und jetzt will er wissen wie es uns geht? Na wie soll es uns schon gehen, gut geht’s uns und wir sind sicher das Du benachrichtigt wirst, wenn uns was zustößt.“
Das saß. Gerade nach seiner Entdeckung schlug ihm der permanente Vorwurf seiner Mutter besonders aufs Gemüt. Hatte er sie nicht erst angerufen? Es musste doch vor zwei, drei Wochen gewesen sein? Oder? Nein, da war er ja im Urlaub, und davor war er dauernd unterwegs …
„Und dem Karl geht’s auch gut?“ Sein Bruder war zehn Jahre jünger als er und er wohnte in der Wohnung unter seinen Eltern — weit genug um ihnen aus dem Weg zu gehen, und nah genug um jederzeit Essen oder Bügelwäsche abzugeben.
„Der Karl ist, wie du wissen würdest wenn Du öfters als zu Weihnachten anrufen würdest, seit zwei Monaten in Afghanistan vom Bund aus. Und dort geht es ihm bestimmt nicht so besonders gut.“
Sein Bruder war beim Bund? Und hatte sich nach Afghanistan versetzen lassen? Sein kleiner Bruder, der nicht einmal eine Erbsenpistole gerade halten konnte?
Trotz das er sich bis eben Sorgen um seine Eltern gemacht hatte, fragte er sich gerade ob er nicht besser ohne sie dran war — nur um den Gedanken sofort beiseite zu schieben.
„Dann ist ja alles klar. Ich wollte nur sagen das ich demnächst mal Vorbeikomme, euch besuchen und so.“
Das schien seine Mutter so zu überraschen, das sie tatsächlich für einige Sekunden sprachlos war, ein Zustand der äussert selten vorkam.
„Wir sind natürlich viel unterwegs, aber wenn du vorher Anrufst werden wir sicher einen Termin finden.“
„Ja, gut, okay, dann bis bald.“
„Bis bald.“
Seine Mutter hatte so schnell eingehängt, das ihm wieder etwas mulmig wurde. Aber das war ein normales Gefühl beim Gespräch mit seiner Mutter.
Er besuchte seine Eltern dann tatsächlich zwei Wochen später, und stellte fest das alles in Ordnung war, sogar dem Hund der Familie ging es hervorragend. Anscheinend hatte er sich zuviele Gedanken gemacht.
Als die Pakete dann aber ausblieben wurde ihm nach einiger Zeit doch wieder mulmig. Üblicherweise musste er alle 2-3 Wochen ein Paket ausliefern. Doch als er nach 8 Wochen kein neues bekommen hatte, wurde auch langsam sein Geld knapp. Er hatte eine ganze Menge Geld für die Fahrten bekommen, und durch die Regelmäßigkeit der Pakete nie die Notwendigkeit gesehen, etwas davon zur Seite zu legen. Es gab immer einen Fernseher, ein paar Schuhe oder eine CD die er unbedingt kaufen musste, bevor er mit dem sparen anfing.
Nach zehn Wochen war er komplett pleite. Der Bankautomat hatte seine Karte eingezogen und der Vermieter drohte mit dem Rausschmiß. Und das obwohl er eine Woche kaum was gegessen hatte, weil er sich nichts mehr leisten konnte. Als er soweit war, einfach abzuhauen, stand ein neues Paket vor seiner Tür. Er machte es auf und fand darin ein Päckchen, eine Adresse und ein Bahnticket. Das Geld war nur die Hälfte von dem was er sonst bekam. Aber es reichte für die Miete und um wenigstens ein paar Brötchen zu kaufen. Er schmiss seinem Vermieter die Miete ein und setzte sich noch am selben Tag in den Zug. Abends war er wieder zurück. Die nächsten Tage wartete er ob etwas neues passieren würde. Er traute sich nicht die Wohnung zu verlassen, für den Fall das ein neues Paket ankam. Und er kaufte nur das notwendigste ein, so billig wie möglich und so daß er den Hunger gerade noch ertragen konnte. Das Geld würde nicht für die nächste Miete reichen und so stellte er sich in der zweiten Wochen in die Einkaufsstraße und versuchte zu betteln. Viel bekam er nicht, aber immerhin reichte es um das wenige was er sich kaufte zu bezahlen. Nach drei Wochen kam ein neues Paket. Wieder war es weit weniger Geld als üblich, aber er war dankbar das er überhaupt noch Pakete kam. Von da an, waren die Pakete fester Bestandteil seines Lebens. Die Regelmäßigkeit der Pakete war wieder gegeben, und mit der Zeit wurde das Geld auch wieder mehr. Er fing an Geld beiseite zu legen, als eiserne Reserve und verbrauchte nur noch das nötigste. So wollte er einen Puffer haben, falls die Pakete einmal wieder ausblieben und er sich tatsächlich eine andere Arbeit suchen musste.
Die Empfänger der Päckchen waren ganz unterschiedliche Menschen. Alte, Junge, Männer und Frauen. Er wusste nicht was in den Päckchen war, und mehr als eines lieferte er nie an eine Adresse. Die Empfänger sahen ihn nicht alle gerne. Mal wurde seine Lieferung freudig empfangen, aber meist Blickten ihn die Leute traurig und müde an. Als wüssten sie genau was in den Päckchen ist, hatte aber eigentlich gehofft das es nicht ankäme.
Eines Tages, es so etwa vor zwei Jahren in Juni, da bat ihn eine ältere Dame herein. Erst wollte er ablehnen, aber er hatte großen Hunger, weil er wieder Angst hatte, das die Pakete ausblieben. Er war ein paar Tage unterwegs mit Freunden und das neue Paket kam schon nach einer Woche, womit er nicht gerechnet hatte. Da seine Nachbarn das Paket angenommen hatten, und ihn nicht angetroffen, war er fast zwei Wochen zu spät mit der Auslieferung. Deswegen war er sogar sofort mit dem Spätzug gefahren, obwohl das für ihn statt dem direkten Weg viermal Umsteigen und eine Fahrt die dreimal solange dauerte bedeutete. Der älteren Dame schien es nichts auszumachen, das die Lieferung verspätet eintraf. Sie bot ihm Kaffee und Kuchen an, und er versuche so langsam wie es ihm mit dem plötzlichen Heißhunger möglich war, zu essen. Die alte Dame hatte offensichtlich Freude daran ihn essen zu sehen und lud seinen Teller sofort wieder voll. Sie stellte ihm keine Fragen, ließ aber das Päckchen auf dem Tisch stehen. Nachdem er das dritte Stück Torte gegessen hatte, öffnete Sie das Paket. Darin war eine kleine Schachtel mit Tabletten. Sie seufzte und holte ein Glas Wasser.
„Junger Mann, könnten Sie mir helfen die Tabletten in diese Glas zu bröseln? Ich fürchte ich schaffe das nicht mehr.“
Erst jetzt viel ihm auf, das Ihre Hände irgendwie komisch aussahen, und das sie doch sehr ungeschickt war den Kuchen auf seinen Teller zu laden. Er wunderte sich, wie sie es schaffte die Wohnung so ordentlich zu halten, wo sie die Hände doch gar nicht gut benutzen konnte. Er half ihr natürlich gerne. Sie war sehr dankbar und gab ihm hundert Euro Trinkgeld, was er gar nicht annehmen wollte.
„Ach was, ich kann damit ja sowieso nichts mehr anfangen.“ Damit schmetterte sie seine Einwände ab. Achselzuckend nahm er das Geld und fuhr wieder heim. Der Job fing langsam wieder an ihm Spaß zu machen.
Die Tabletten hatten nicht ausgesehen wie Ectasy — was er bei der einen oder anderen Gelegenheit mal probiert hatte, allerdings war er dadurch weder zum Hengst geworden, noch konnte er mangels passender Partnerin seine angeblich gesteigerte sexuelle Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen — und daher ging er davon aus das es sich eher um ein harmloses Wundermittelchen handelte. Da es offensichtlich nicht wirkte, bestellte auch niemand eine neue Dosis und er lieferte somit niemals an die selbe Adresse.
Letztes Jahr hingegen lieferte in das gleiche Haus in dem die alte Dame gewohnt hatte. Es war sogar diesselbe Wohnung. Allerdings wohnte die alte Dame nicht mehr dort, sondern ein Mittvierziger mit riesigen Augenringen, völlig abgemagert. Der Mann kam ziemlich atemlos zur Tür und nahm das Päckchen mit zittrigen Fingern. Er gab ihm kein Trinkgeld und wollte die Tür nach einem Blick in den Flur schnell wieder schliessen, da fasste er seinen Mut zusammen und fragte nach der alten Dame. Der Mann schaute ihn erst verwirrt, dann irritiert an.
„Juni letztes Jahr. Hat es geschafft.“ sagte er Mann kurzangebunden und wollte wieder die Tür schliessen, doch der Fuß des jungen Mannes steckte in der Tür.
„Was hat sie geschafft?“
Wieder diese verwirrte Blick.
„Na was wohl, hat sich umgebracht.“
„Ich, aber … wieso?“
„Krebs. Beide Hände. Und Metastasen überall. Kann man nix machen, mit Metastasen. Nur beenden bevor die Schmerzmittel nicht mehr wirken.“
Der Mann sah ihn an als wüsste er genau wovon er sprach. Dann schaffte er es die Tür zu schliessen und der junge Mann stand wieder alleine auf dem Flur.

Die ganze Heimfahrt über dachte er nach. Zu hause angekommen setzte er sich an seinen Rechner und gab aufs geradewohl Adressen ein, und Namen, an die er sich noch erinnern konnte. Bei einigen fand er nichts, bei anderen fand er Todesanzeigen. Bei einem oder zwei sogar einen Nachruf. In dem Nachruf stand, das der Betreffende sich das leben genommen hatte um einem langen und schmerzhaften Tod zu entgehen. Es gab sogar einmal eine Polizeinotiz, worin stand das nicht klar war wo das verwendete Mittel herkam, da weder ein Rezept gefunden wurde, noch es in der örtlichen Apoteke erstanden war.
Langsam dämmerte er ihm das er kein unwirksames Wundermittel transportierte. Sondern ein sehr wirksames. Es schien als ob jeder einzelne dem er ein Päcken lieferte — zumindest jeder den er im Internet finden konnte — sich das leben genommen hatte. Bei den wenigen bei denen er mehr als eine Todesanzeige gefunden hatte, waren die Menschen sehr krank, ohne Chance auf Heilung. Er war kein Lieferjunge, er war ein Todesbote!

Die Freude an der Arbeit war verflogen. Er schwor sie nie wieder eines des Päckchen auszuliefern, niemals, nirgendwohin. Doch als das nächste Päckchen kam, lieferte er. Das Geld war knapp, und sein Auto war kaputt gegangen, die Reparatur teuer. Aber das sollte das letzte sein. Es kamen aber immer wieder welche.
Nur dieses, mit dem er jetzt in dem Zug saß, das war definitiv das letzte. Er hatte einen Job gefunden, einen richtigen Job. Ohne Ausbildung war das nicht so einfach, und das Geld war auch deutlich weniger als er mit den Päckchen verdiente. Aber er konnte einfach nicht mehr. All die Menschen, denen er Päckchen geliefert hatte, waren tot, alle erschienen ihm Nachts und klagten ihn an. Er versuchte immer und immer wieder sich klarzumachen, das er nur der Bote war, das er niemanden zwang die Tabletten einzunehmen, das die Menschen mit dem Leben abgeschlossen hatten und die alternative für die Menschen ein langer und schmerzhafter Tod wäre. Das er ihnen das Abschied nehmen nur leichter machte.
Aber er konnte es nicht. Er konnte nicht verstehen wie man aus dem Leben scheiden konnte, wie man sein Leben wegwerfen konnte, das hatte er nicht mal ernsthaft in Erwägung gezogen als er ganz unten war.
Die Adresse war ihm vom Hörensagen geläufig. Seine Eltern lebten nicht allzuweit von hier. Er schritt durch die kleine aber saubere Altstadt des Dorfes und fand die richtige Adresse schnell. Er klingelte an der einzigen Klingel, es war kein Name an der Tür.
Die Gegensprechanlage knisterte und er sagte seinen üblichen Spruch
„Ich habe ein Päckchen von ‚den Wegen‘ für Sie.“
Die Tür öffnete sich und er ging in das Treppenhaus. Die Treppe nach oben war versperrt, offensichtlich wohnte dort niemand. Im Erdgeschoß ging eine Tür auf und er schritt darauf zu um das Päckchen loszuwerden. Er konnte die Krücken hören und sein erster Blick fiel auf die Beine des Mannes, oder besser auf das Bein. Es war nur noch eines, das andere ein Stumpf mit einem Verband. Dann schaute er in das Gesicht des Mannes. Er hätte ihn fast nicht erkannt. Es wäre ihm lieber gewesen wenn er ihn nicht erkannt hätte. Denn dort stand sein Bruder. Mit einem Bein und er sah mittlerweile dreißig Jahre älter aus, und die Jahre waren nicht nett zu ihm gewesen.
„Karl … ?“
„Du? Was willst Du? Haben Dich die Eltern geschickt?“
„Ich dachte Du bist in Afghanistan …“
„Ja, das denken die Eltern hoffentlich auch noch, sie sollen mich so nicht sehen.“
„Ich habe ein Päckchen für Dich, Karl …“
Karl schaute mich mit traurigen blutunterlaufenen Augen an, die er noch nie an ihm gesehen hatte.
„Komm rein.“
Er folgte ihm in das kleine dreckige Appartment. Es stank nach Alter und Krankheit, und das obwohl sein Bruder zehn Jahre jünger war, schien er mittlerweile viel, viel Älter zu sein.
„Was ist mit Dir passiert, Karl?“
„Afghanistan ist passiert.“
Karl blickte seinen großen Bruder an, nahm ihm mit einer Hand das Päckchen ab und winkte mit einer Krücke auf einen Sessel in dem kleinen Wohnzimmer.
Als der ältere Bruder sich gesetzt hatte, setzte Karl sich gegenüber auf die Couch, auf der sich Berge von Müll stapelte, Pizzakartons und Chipstüten. Dann erzählte Karl, wie es ihm ergangen war. Das er in Afghanistan für eine Elitetruppe rekrutiert wurde. Das er Taliban in der Wüste gejagt hat. Das niemand von seinem Auftrag wissen durfte. Als seine Einheit bei einem Einsatz fast vollständig aufgerieben wurde, konnte er sich verstecken. Er war angeschossen worden und die Wunde entzündete sich. Als man ihn endlich fand, war es für sein Bein zu spät, es musste noch in seinem Versteck amputiert werden. Als er im Lazarett gründlich untersucht wurde, fand man in seiner Lunge schatten. Er hatte ein kleinzelliges Lungenkarzinom. Es gab keine Heilung, man konnte es höchstens rauszögern. Durch den Einsatz, den Verlust der Kameraden und seines Beines hatte er allen Mut verloren, er lehnte eine Chemotherapie ab und wurde in die Heimat überführt. Doch anstatt zu den Eltern zu gehen, bezog er diese kleine Wohnung. Erst schloss er sich völlig ein, dann, vor vier Wochen, ging er wieder zum Arzt, in der irren Hoffnung, das sich die Ärzte im Feldlazarett geirrt hatten. Das hatten sie aber nicht, im Gegenteil man fand mehrere Metastasen, in den Knochen, in der Leber im Gehirn. Man gab ihm wenige Wochen zu leben, da die Metastasen im Gehirn waren wohl schmerzfrei. Karl wollte aber nicht in seiner eigenen Scheiße liegend gefunden werden, also beschloss er Hilfe zu suchen. Hilfe, die ihm ein Päckchen schickte, die ihm einen einigermaßen würden Abgang ermöglichen würden. Ein Päckchen das ausgerechnet sein Bruder ihm bringen würde.
Lange saßen die beiden da und schwiegen sich an. Lange konnte keine etwas sagen.
Karl fand zuerst die Worte wieder.
„Du mußt nicht dabei sein, ich schaffe das schon. Geh einfach und denk nicht drüber nach.“
Der ältere Bruder holte Luft um etwas zu erwiedern, doch stattdessen brach er in Tränen aus. Der Weinkrampf dauerte einige Minuten, bis er sich soweit erholt hatte, das er wieder einigermassen verständlich reden konnte. Die ganze Zeit hatte sein jüngerer Bruder ihn im Arm gehalten, der jüngere Bruder, des Leben zu Ende war, in jedem Falle, spendete dem älteren, der noch soviel Leben vor sich hatte Trost.
„Das bin ich dir schuldig Karl.“
Karl sagte ihm wo die Gläser waren, und so stand nach kurzer Zeit ein Glas mit zerbröselten und aufgelösten Tabletten vor ihm. Der ältere Bruder half seinem jüngerem Bruder saubere Sachen anzuziehen, wusch ihn und kämmte ihn, und hielt ihm die Hand als Karl das Glas in einem Zug leertrank. Die Tabletten wirkten schnell. Nach wenigen Minuten war Karl eingeschlafen, nach einer halben Stunde konnte man keinen Puls mehr fühlen.
Er schloss Karls Augen, benutze ein Tuch um die Fingerabdrücke von der Türklinke zu entfernen und verschwand aus dem Haus.
Bevor er nach Hause fuhr, besuchte er seine Eltern. Sie freuten sich, aber verstanden nicht, warum ihr Erstgeborener sie so oft in den Arm nahm. Die Heimfahrt verlief wie alle anderen, obwohl sich doch so viel geändert hatte.

Heute war es wieder ein Päckchen. Den anderen Job hat er abgesagt. Er brachte die Päckchen, wo immer man ihn hinschickte. Doch er brachte nicht nur die Päckchen. Er bot an zu reden, zuzuhören, da zu sein. Viele nahmen das Angebot an, manche lehnten es ab. Er wusste nicht ob es jemanden gab, der die Tabletten dann nicht nahm, aber er versuchte für jeden Einzelnen da zu sein, und ein letztes mal zuzuhören. Die Last spürte er immer noch, jedesmal wenn er seinen Rucksack hochnahm, die Last würde immer da sein. Aber vielleicht konnte er ein bisschen Last von den Schultern nehmen, denen er die Päckchen brachte …

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