Am Rande des Weges

Nach dem der letzte Schnee getaut war, ging ich in Wald spazieren. Der erste Frühlingstag kroch durch die Nacht und Dämmerung brach sich in den Wipfeln der Bäume. Der Weg auf dem ich ging war lange nicht betreten worden, keine einzige Spur führte mich. Im Unterholz konnte ich das Rascheln hören, wenn Kleingetier sich dort auf Nahrungssuche begab. Ich liess sie unbehelligt und setzte meinen Weg tiefer in das schimmernde Grün fort. Der Ziel war mir nicht unbekannt. Diesen Weg habe ich jedoch schon lange nicht mehr genommen. Einsam ging ich, und doch fühlte ich mich nicht unwohl. Ich wusste ja wo ich hinwollte. Wie so oft in der Vergangenheit befiel mich diese Ruhe, eine innere kraftvolle Stille die mir Kraft gab. Ich spürte wie ich mich entspannte und der Streß und die Hektik von mir abfielen. Der Weg war nicht sehr lang und so kam ich bald an, aber ich hatte bereits jetzt die innere Ruhe erreicht, die notwendig war für das was ich vor hatte. Ich trat auf diese Lichtung, in deren Mitte ein kleiner Teich war. Am Rande des Teiches war ein quadratischer Stein, der zum Sitzen einlud. Es war alles noch so, wie ich es in Erinnerung hatte. Sogar die Quelle am Rande des Teich gluggerte leise vor sich hin und die Schöpfkelle daneben sah sauber aus. Dies war ein wunderbarer Ort, an denen nur selten ein Wanderer vorbeikam, und wenn dann war es jemand der das Ziel kannte und wusste was er hier Vorfand. Für jeden Anderen war es eine kleine Lichtung in der eine trübe Pfütze war, die die Lichtung unpassierbar machte.
Ich ging zur Quelle und schöpfte etwas von dem klaren Wasser, das ich mir anschliessend über die Hände und Mund goss. Den Rest des Wassers goss ich im halbkreis um die Quelle aus. Das Wasser war so klar und rein, es strahlte soviel Energie aus das mir ein leichter Schauer den Rücken herunterfuhr. Eine wohlige Wärme breitete sich in mir aus und ich setzte mich im Schneidersitz auf den Quader. Angenehm schmiegte sich der Stein, der erstaunlich warm war, an meine Beine und ich begann zu meditieren. Hier war es einfach die Mitte zu finden, die Ruhe und Kraft hatte mir bereits der Weg gegeben. Nach kurzer Zeit erreichte ich die höchste Stufe der Konzentration, war eins mit dem Fels, dem Wasser, der Erde. Hier an diesem Ort war es möglich das Gras zu spüren, jedes Wassermolekül das sich in den Poren der feuchten Erde entlangwindet und jedes Lebewesen, das an diesen Ort auf der Suche nach Wasser und Ruhe war.
Als ich meine Augen öffnete sah ich den alten Mann neben mir sitzen. Er war leicht bekleidet, mit einem Umhang nur, trotz der noch kühlen Temperaturen. Es war mittlerweile Nacht geworden, aber ich konnte ihn klar und deutliche erkennen, die Sterne schienen so hell und die Lichtung war erleuchtet.
Er blickte mich an und in stillem Verständnis wusste er, weswegen ich gekommen war. Wie jedesmal, wenn ich hierherkam. Ich kam nie zweimal wegen derselben Sache, was unmöglich war. Man konnte immer nur einmal hierherkommen. Mein Anliegen war ihm nicht fremd, doch für mich war es das. Wer wegen einer Trivialität herkam, einem Anliegen das ihm nicht wichtig erschien – wobei mir seine Auswahlkriterien nicht bekannt waren – erschien er nicht. Manchen erschien er nie. Mir war er schon so manches mal erschienen. Manchmal in der Not, manchmal bei Sachen die mir Rückblickend trivial erscheinen. Aber immer schaute er mich mit diesen dunklen, verständigen Augen an, in denen ein Feuer zu lodern schien. Ich wagte wie immer kaum zu atmen, wenn er da war, aus Angst etwas falsches zu tun. Gesprochen habe ich mit ihm nie. Er wusste immer was es war, weswegen ich zu ihm kam. So schaute er mich auf diesmal an, und ich fühlte mich nackt, als könnte er direkt in meine Seele blicken, als streifte er Schicht um Schicht herunter und betrachtete den Kern, wog gleichsam und entschied dann was er tat. Manchmal tat er gar nichts, aber mir wurde bewusst was ich tun musste, als ob er die ganzen Gedanken entfernt hätte, die mich von der Lösung meines Problems trennten. Manchmal nickte er, und liess mich einen Blick in den Teich werfen, der mich gleichsam aufsog und mir zeigte was zu tun war.
Doch diesmal schüttelte er den Kopf, langsam und bedächtig. Eine Woge der Verzweiflung überkam mich, ich hatte das Gefühl als ob sich der Boden unter meinen Füssen aufgetan hätte und ich fiel ins Nichts darunter. Anscheinden wusste er wie ich mich fühlte, konnte gleichsam den Kloß in meinem Hals spüren, der meine Stimme lähmte. Dann streckte er den Arm aus, wie er es so oft getan hatte und zeigte in den Teich. Ich blickte auf mein Spiegelbild hinunter aber statt wie sonst löste sich das Bild nicht auf und ich sah nur in meine eigenen Augen, die Verzweiflung war darin zu erkennen, die Hilflosigkeit angesichts meiner Selbst. Als ich wieder aufblickte, war der alte Mann verschwunden und ich war wieder alleine auf der Lichtung. Aus dem Teich war eine matschige Pfütze geworden, der Stein auf dem ich saß vermodert und voller Moß. Auch die Quelle daneben gluckerte nicht mehr, ich konnte bloß ein zerfressenes Stück Metall finden, das einst die Kelle gewesen sein mag.
Der Weg den ich zurücknahm war der gleiche, aber nicht derselbe den ich hergekommen war. Es waren keine Fußspuren zu sehen, weder vor mir, noch hinter mir. Als ich an die Stelle kam, an der ich den Weg eingeschlagen hatte und mich umblickte, was statt dem Eingang des Weges nur dichtes Gestrüpp. Tief in meinem Inneren wusste ich, das es das letzte Mal war, das ich an jenem Ort weilen durfte, das ich den Weg niemals wieder finden würde, und das der alte Mann nie wieder da sein würde, wenn ich in meiner Verzweiflung nach ihm suchen würde.
An mein eigenes Spiegelbild in diesem Teich kann ich mich gut erinnern, jener Tag, an dem ich nichts als mich selbst sah. Ich kam eine Zeitlang dannach oft an den Ort wieder, wo einst der Abzweig zu dem Weg war, und alles was ich fand war Gestrüpp. Meine Verzweiflung wuchs in jener Zeit, ich war unfähig einen klaren Gedanken zu fassen, keine Entscheidung konnte ich mehr treffen und die einfachsten Verrichtungen fielen mir unendlich schwer.
Letztendlich nach einer scheinbar unendlichen Zeit, kam ich wieder an den Ort an dem der Weg einst lag. Der Schnee war gerade geschmolzen. Es gab keine Fusspuren im Wald, und nur das Geräusch kleiner Tiere und der ersten Vögel begleitete mich. Ich sah mir eine scheinbar endlose Zeit das Gestrüpp an, und als ich mich umdrehen wollte und wieder zu meiner Verzweiflung zurückzukehren sah ich eine Blume unterhalb des Gestrüpps. Sie war mir vorher nicht aufgefallen, aber eindeutig stand sie da schon lange. Sie war gerade dabei aufzugehen, eine einsame weiße Rose, die völlig fehl am Platze und viel zu früh dort Blühte. Ich bin zu der Rose und betrachtete sie. Ein winziger Tautropfen dort, auf diesen perfekten Blättern schimmerte im Licht wie ein Diamant. Ich konnte nicht wiederstehen und wollte sie pflücken, aber ich griff in einen der Dornen und stach mir in die Finger. Mehr vor Schreck als vor Schmerz zog ich meine Hand zurück, aber dennoch tropfte ein einzelner Tropfen Blut auf die Blüte. Ungläubig sah ich, wie die Blüte den Tropfen gleichsam aufsaugte und aus der weißen Rose wurde eine rote, von solch einer Pracht das ich geblendet war. Ich konnte es mir nicht erklären wie das geschehen konnte und näherte mich der Rose. Diesmal liess sie sich pflücken und als ich den Stiel mir anschaute sah ich, das sie gar keine Dornen hatte. Der Rosenduft der mir nun in die Nase stieg war betörend, er erfüllte mich mit solcher Ruhe und Kraft wie ich sie lange nicht mehr gespürt hatte. All die Verzweiflung und die Einsamkeit schien so weit weg, die Mitte die ich in mir so lange nicht gefunden hatte war wieder da, als ob ich sie nie verloren hatte.
Als ich meine Augen wieder öffnete konnte ich hinter dem Gebüsch Fussspuren sehen, die von nackten Füßen stammen könnten. Ganz weit hinten im Wald meinte ich eine Gestalt zu sehen und ich war sicher das sie lächelte.
Ich ging nach Hause, ein Ort den ich lange nicht so nennen konnte, weil dort nur Verzweiflung und Einsamkeit herrschten. Doch diesmal, als ich mit jener Rose eintrat, war es als ob das was vorher kalt und fremd war, freundlich und vertraut mich einlud. Ich stellte die Rose in eine Vase und betrachtete sie eine lange Zeit noch.

Heute, viele Jahre später steht die Rose noch genauso da wie an dem Tag als ich sie mitbrachte. Sie hat sich nie verändert, ist nie gewelkt. Immer wenn ich diese Verzweiflung spürte genügte es diese Rose zu betrachten um die innere Ruhe zu finden, die Verzweiflung verschwand und die unüberwindlichen Hürden die vor mir lagen wurden klein und Unwichtig. Sicher, die Probleme waren nicht verschwunden, es geschah kein Wunder. Aber sind es nicht gerade die Probleme an denen wir Scheitern, die uns zu dem machen was wir sind?
Die Dornen an denen wir uns stechen und die Blüten an denen wir uns erfreuen sind nichts als die Steine die unseren Weg markieren. Ich glaube das ist es was der alte Mann mir sagen wollte, das in der Traurigkeit in uns, der Weg den wir beschreiten liegt.
Nach dem der letzte Schnee getaut war, ging ich in Wald spazieren. Der erste Frühlingstag kroch durch die Nacht und Dämmerung brach sich in den Wipfeln der Bäume. Ich kam an die Stelle, an der ich einst jeden Weg ging, der mich zur Lichtung führte. Ich konnte nur verwachsenes Gestrüpp erkennen an der Stelle die einst ein Weg war. Dort blieb ich lange stehen und lächelte, dann ging ich weiter auf jenem anderen Weg, der nun mein eigener werden sollte. Und irgendwo an einem klaren Teich mit einer Quelle, das wusste ich, saß der alte Mann und lächelte.

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